Michael Meisinger

Wofür braucht man eintausendfünfhundert Sicherheitsnadeln?
– Eurythmie an der Waldorfschule-
Chaos und Ordnung
Dies Frage nach den Nadeln kann nur jemand beantworten, der während einer
Eurythmieaufführung an unserer Schule seine Nase hinter die Kulissen gesteckt hat. Dort
werden die Sicherheitsnadeln allerdings nicht dafür benötigt, die Nerven des
Eurythmielehrers zusammenzuhalten, sondern um hundert Schüler in ihre Kostüme zu
stecken und die ganze Pracht für etwa zwei Stunden einigermaßen in Form zu halten.
Während es in der Garderobe drunter und drüber geht, zeigen die Schüler auf der Bühne
in Höchstform ein über Monate einstudiertes Programm und von den schweißtreibenden
Ereignissen auf der Hinterbühne ist nichts zu ahnen.
Einzelne Projekte
An unserer Schule findet ein reges eurythmisches Leben statt. Es gibt im Schuljahr viele
besondere Anlässe, die zur Tradition geworden sind. Ihre festliche Gestaltung zeigt sich
auf vielerlei Weise durch die Eurythmie.
Zu den Jahreszeiten und ihren Festen ist eine betont klassische Seite dieser Kunst zu
sehen. Im Herbst ist die fünfte Klasse an Michaeli mit einer Darbietung vertreten. Mit
einem ernsten, gehaltvollen Programm stimmt die zehnte Klasse in der winterlichen
Vorweihnachtszeit auf die Adventszeit ein. Nach Weihnachten, im Januar lässt die elfte
Klasse uns mit den „Zwölf Stimmungen“ von Rudolf Steiner noch einmal auf die zwölf
Weihnachtsnächte zurückschauen.
Werkstattcharakter zeigt sich in unseren Schulfeiern und Klassennachmittagen. Ein
künstlerisch unterhaltsames Programm wird in zwei abendfüllenden Vorstellungen in der
zweiten Hälfte des Schuljahres von der achten Klasse präsentiert. Die siebte Klasse
studiert ein Märchen ein. In den letzten Jahren ist eine bunte Folge von Geschichten zu
sehen gewesen: Peter und der Wolf, Die kleine Meerjungfrau, Ruslan und Ljudmila,
Pinocchio, Die Schneekönigin, Turandot und Max und Moritz.
Ein weiterer Höhepunkt im Jahr ist die Aufführung der zwölften Klasse, die im Rahmen
des Abschlusses der Waldorfschulzeit steht. Die ganze Oberstufe und insbesondere die
zwölfte Klasse zeigt ein thematisch gestaltetes Programm. In den letzten Jahren wurden
gezeigt: Planetentanz, Apokalypse, Der Fischer und seine Seele, Tanz auf dem Vulkan,
Krieg und Frieden, Peer Gynt und Wenn Klänge zu Bildern werden. Die eurythmischen
Arbeiten mit der siebten und zwölften Klasse zeigen einen sehr freien Umgang mit der
Eurythmie. Oft werden Elemente aus benachbarten Künsten so eingefügt, dass sie den
Ausdruck bereichern und die künstlerischen Möglichkeiten der jeweiligen Altersstufe
prägnant zur Erscheinung bringen.
Innere und äußere Bewegung verbinden
Nach zwölf Jahren Eurythmie kann man sich nun fragen: Was hat dieser Unterricht am
Kind und Jugendlichen fürs Leben ausgebildet und warum wird dieses Lernen dazu noch
durch eine krönende Darbietung in der zwölften Klasse zu einem gewissen Abschluss
gebracht?
Resonanzfähigkeit
Die zwölfte Klasse beschließt die Waldorfschulzeit. Eine Fülle an Wissen, Erfahrungen
und Erlebnissen bildet die Grundlage, auf der verschiedene Prüfungen abgelegt werden.
Ein gewisser Reifegrad sollte erreicht sein, um selbständig, souverän und
eigenverantwortlich urteilen und handeln zu können. Da die Waldorfschule als primäres
Ziel die Ausbildung des Menschen mit all seinen Entwicklungsmöglichkeiten hat, ist es
gar keine Frage, dass der Schüler nicht nur seine intellektuelle Beweglichkeit unter
Beweis stellt, sondern dass er in dieser Zeit auch sein Auftreten als Persönlichkeit prüft.
Von der ersten bis zur zwölften Klasse lernten die Schüler im Eurythmieunterricht eine
Form der Beweglichkeit, bei der innere und äußere Bewegung in eine künstlerisch
gestaltete harmonische Verbindung gebracht werden. Auf diese Weise wirkt die
Eurythmie in alle übrigen Unterrichte auf sublime Weise hinein. Sie weckt eine
Regsamkeit, welche die Vielseitigkeit des gesamten Fächerkanons der Waldorfschule
durchdringt. Für die Schüler entsteht dadurch eine gewisse selbstverständliche
Bereitschaft, alles schulische Lernen als Persönlichkeitsentwicklung aufzufassen und
entsprechend damit umzugehen. Wie ist mein sozialer Umgang? Wie ist mein
Durchhaltevermögen? Wie steht es mit meiner Konzentration? Habe ich
Führungsqualitäten und wie ist mein Einsatz aus freiem Entschluss heraus? Diese Fragen
treten am Ende der Waldorfschulzeit ins Bewusstsein der Schüler. Sie beziehen sich nicht
in erster Linie auf die Beherrschung einzelner Lerninhalte. Vielmehr verbinden sich darin
eine erste Selbsteinschätzung mit einer gewissen ersten Haltung gegenüber dem Leben.
Diese Einschätzung und Haltung bestimmen die ersten Schritte nach Beendigung der
Schulbiographie. Dass sie gelingen können, ist im besten Falle auch Verdienst eines
Unterrichtes, dessen Inhalte ganz im künstlerischen Prozess, in der unmittelbaren
künstlerischen Tätigkeit aufgehen. Resonanzfähigkeit im lebendigen Dialog mit sich und
der Welt ist das tagtägliche Arbeitsfeld der Eurythmie