Eine Waldorfschule wird geboren – Versuch einer Würdigung

von Jessica Gube (zuerst erschienen in der Festschrift zum 25. Jubiläum der Waldorfschule in Ostholstein)

„Was immer du tun kann und erträumen kannst, du kannst damit beginnen.
Im Mut liegt Schöpferkraft, Stärke und Zauber.“
J.W. von Goethe

„Er wusste nicht, dass es unmöglich war, also hat er es getan.“
Jean Cocteau

2017. Da stehen die Gebäude, da tummeln sich die Kinder, es wird gearbeitet und auch gefeiert. So soll es sein, und so ist es tägliche Wirklichkeit seit nunmehr 25 Jahren. Mit dem Erreichen der „25“, des Vierteljahrhunderts, kann man sagen, dass die Waldorfschule in Ostholstein Geburt, Kindheit und Jugend mit den entsprechenden Entwicklungsschritten, Freuden, Leiden, Höhen und Tiefen gemeistert hat und erwachsen geworden ist.

Idee, Ideale und der Weg zur Reifung

Über die Entstehung der Schule kann man Daten und Fakten nennen. Das ist interessant und wissenswert und soll an dieser Stelle auch geschehen. Darüber hinaus darf man aber nicht vergessen, dass dahinter immer Menschen stehen, die mit Idealen, Mut, Tatkraft und großem Engagement, manches Mal auch mit großen Mühen die Waldorfschule in Ostholstein ins Leben gerufen haben. Rufe können verhallen oder gehört werden, und weitere Menschen – und auch gute Geister – können ihnen folgen. Doch vom Ruf bis hin zum ersten Atemzug des neuen Wesens brauchte es Zeit zum Wachsen und Reifen, fast zehn Jahre lang. Viele Bausteine waren nötig, damit die Ostholsteiner Waldorf-Kinder eine schulische Heimstätte finden konnten.

Vereinsgründung

1983. Der „Verein zur Förderung der Pädagogik Rudolf Steiners in Ostholstein“ wird von initiativen Eltern in Schashagen bei Neustadt gegründet. In der auf den ersten Blick kargen anthroposophischen und waldorfpädagogischen Landschaft der Region sind auf den zweiten Blick doch mancherlei hoffnungsvolle Zukunftskeime zu entdecken.

Erste Schritte im Neustädter Umfeld

In Neustadt besteht seit 1977 ein Waldorfkindergarten, und in dessen Umfeld sind Menschen, die für ihre Kinder Waldorfpädagogik selbstverständlich auch im Schulalter wollen, sich aber bis dahin zur Waldorfschule in Lübeck orientiert hatten. Es entstehen Ideen für eine integrative Waldorfschule, ein Lesekreis bildet sich, erste Gespräche mit dem Bund der Waldorfschulen und der Kieler Waldorfschule als möglicher Mutterschule werden geführt. Zwei Kinder erhalten über zwei Jahre hinweg von einem privat finanzierten Waldorflehrer Schulunterricht, der danach aus verschiedenen Gründen eingestellt wird. Es scheint letztlich weder pädagogisch noch sozial der richtige Zeitpunkt zu sein, um hier weiteres aufzubauen.

Waldorfkindergärten und biologisch-dynamische Landwirtschaft im Umkreis

In Eutin gibt es ebenfalls Familien, die großes Interesse an der Waldorfpädagogik haben und zum Teil den Weg zur Waldorfschule Lübeck täglich auf sich nehmen. Am Ort hatte es übrigens bereits seit 1948 einen Zweig der anthroposophischen Gesellschaft gegeben; der dortige Waldorfkindergarten wird 1989 gegründet.
In Oldenburg arbeitet seit 1981 ein Waldorfkindergarten, dessen Anfänge sich bis in das Privathaus, wo er als Spielgruppe begonnen hat, zurückverfolgen lassen.
Auf ähnliche Weise entsteht im Laufe dieser bewegten Achtzigerjahre aus einer privaten Spielgruppe heraus der Kindergarten Cismar-Gruberhagen, später Cismarfelde, der dann 1991 Verein zur Förderung der Waldorfpädagogik in Grömitz betitelt wird.
Auch gibt es im Landkreis eine kleine Zahl biologisch-dynamisch arbeitender Bauernhöfe, die neben dem Ackerboden auch den seelisch-geistigen Boden für die weitere Entwicklung anthroposophischer Initiativen bereiten. Auch die Arbeit der Christengemeinschaft, von der Lübecker Gemeinde ausgehend, findet auf den Bauernhöfen Raum.

Die Oberuferer Weihnachtsspiele

1984. In Ostholstein leben Menschen, die schon erwachsene und somit keine schulpflichtigen Kinder mehr haben, aber in der Anthroposophie beheimatet sind, sich in verschiedenen Bereichen des anthroposophisch-kulturellen Lebens engagieren und Stück für Stück mit anderen zusammenschließen. So wird beispielsweise, die erste Neustädter Initiative aufgreifend, das Oberuferer Christgeburtsspiel von 1984 an jährlich einstudiert und aufgeführt, unter anderem auch in der Lensahner Kirche.

Öffentliche Vorträge

Eine wichtige Station auf dem Weg zur Verwirklichung der Schule sind die öffentlichen Vorträge, die ab 1984 und verstärkt ab 1986 über Jahre hinweg im gesamten Landkreis gehalten werden, um die Initiative zur Gründung der Waldorfschule bekannt zu machen. Vielerlei Themen aus Pädagogik und Erziehung, Medizin und Gesundheit, Ernährung, Landwirtschaft, Lebensführung, Religiosität und Spiritualität werden von eigens dafür eingeladenen und angereisten Referenten dargestellt. Oft sind diese Vorträge sehr gut besucht. Auch künstlerische Veranstaltungen wie zum Beispiel Eurythmie- und Theatergastspiele werden durchgeführt.
Kontakte sowohl im schleswig-holsteinischen Raum wie auch ins Ruhrgebiet, vor allem nach Bochum-Langendreer zu den dortigen Waldorfkreisen ermöglichen eine Vielzahl von Referenten. Vernetzungen vor Ort in Ostholstein zur evangelischen Kirche, in die Kommunalpolitik, in die öffentlichen Schulen und zur lokalen Presse sorgen dafür, dass stets Räumlichkeiten gefunden werden, in denen die Veranstaltungen stattfinden können und die Berichte auch in den Zeitungen veröffentlicht werden.
All dies sind wichtige Wegbereiter und Bausteine für die Waldorfschule in Ostholstein. Doch bis zur Schuleröffnung ist es noch weit. Die interessierten und engagierten Menschen an den verschiedenen Orten des Landkreises haben zum Teil unterschiedliche Vorstellungen von Ort und Art der Schule. Es gibt Auf- und Abbewegungen und auch Differenzen, bis ein gangbarer Weg sich herauskristallisiert.

Die Freizeitschule

1988. An den Standorten Oldenburg und Eutin wird die Freizeitschule eröffnet. Hier werden in Gruppen die Kinder unterrichtet, die inzwischen in die öffentlichen Grundschulen eingeschult worden sind, deren Eltern ihnen nachmittags aber Grundelemente der Waldorfpädagogik nahebringen wollen. Sowohl künstlerische und musische Aktivitäten wie auch Inhalte der typischen Waldorfschul-Epochen der jeweiligen Altersstufen werden 1-2mal wöchentlich von einem dafür eingestellten Waldorflehrer unterrichtet. Daneben gibt es Lesekreise und handwerklich-künstlerische Arbeitsgruppen für die Eltern, in denen viele grundlegende Fragen unkompliziert gestellt werden können und Raum entsteht für das große Feld der Waldorfpädagogik in Familien-, Kindergarten- und Schulpädagogik. Auch eine Puppenbühne, die dann viele Jahre hindurch an verschiedenen Orten gastiert, entsteht in dieser Zeit.
In der Begegnungsstätte der Christengemeinschaft auf dem Methorst bei Rendsburg findet über drei Jahre hinweg jährlich ein Familienwochenende statt, wo für Kinder und Erwachsene ein reichhaltiges Spiel-, Kunst-, Arbeits- und Gesprächsprogramm angeboten wird. Die werdende Schulgemeinschaft rückt stärker zusammen.

Weite Wege belasten die Kinder und Eltern

So wächst das Interesse, und damit einhergehend auch die Menschengemeinschaft. Die Kinder wachsen in der Zahl, aber natürlich auch vom Alter her. Der Aufwand für die zur Waldorfschule Lübeck orientierten Familien ist erheblich. Über Jahre hinweg fährt von Neustadt aus ein privater Schulbus morgens dorthin und mittags zu zwei verschiedenen Zeiten zurück. Vom nördlichen Landkreis aus sind der Weg und der Zeitaufwand noch größer. Bis zu 50 Kinder fahren täglich mit diesem Bus. Die Dringlichkeit der Schuleröffnung nimmt zu.

„Horizontale“ Arbeitsstrukturen sollen die letzte Wegstrecke erleichtern

1988/89 entstehen neue Vorstandsstrukturen für den Förderverein – der Kreis wird größer und teils neu besetzt. Aus den Waldorfkindergärten im Umkreis werden Menschen mit einbezogen und im Sinne verteilter Aufgaben und horizontaler Arbeitsweise die anstehenden Schritte zur endgültigen Schuleröffnung angegangen.
Die Hoffnungen liegen auf der Schulgründung für Herbst 1991. Doch es zeigt sich, dass zu viele Schritte nötig sind, um der Anerkennung durch den bereits Genüge zu tun, sowohl von offizieller wie auch von waldorfinterner Seite aus. Der Name „Waldorf“ als geschützter Name erfordert vielerlei, um genehmigt werden zu können. Der Bund der Freien Waldorfschulen und sein regionaler Ableger, die Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen Schleswig-Holsteins, schauen aufmerksam auf jede Gründungsinitiative – das Konzept muss gefasst, die Finanzierung bedacht, eine Patenschule gefunden werden, die wiederum Gründungsberater stellt, die regelmäßig mit der Gründungsinitiative arbeiten. Neben der Verankerung des Interesses in der regionalen Elternschaft müssen vor allem auch Waldorflehrer gefunden werden, die an einer neu entstehenden Schule unterrichten können. Vor Ort sollen Lehrer möglichst auch ausgebildet werden. Eine kleine Gruppe Interessierter besucht daraufhin über längere Zeit hinweg die Wochenendausbildung in Lübeck. Und natürlich stellt sich die Standortfrage.

Mit den Anforderungen wachsen auch die Fähigkeiten

Zum Herbst 1991 kann die Vielzahl der notwendigen Schritte nicht komplett vollzogen werden.
Vor Weihnachten 1991 ist im Kreis der engagierten Menschen der Mut ziemlich gesunken – zu groß scheint die Aufgabe, zu stark die Widerstände.
Manchmal haben die Beteiligten den Eindruck, als würden ihnen besonders hohe Hürden errichtet, besonders große Steine in den Weg gelegt. Doch Widerstände können stärken, nach innen zusammenschweißen und vor allem manches klarer machen. Und dies braucht es vielleicht auch, damit eine tragfähige Schule entstehen kann. Über das eigene Kind hinaus, das es zu beschulen gilt, wird der Wille, Waldorfschule werden zu wollen, letztlich stärker und stärker. Es werden Kräfte entwickelt, die man sich vorher nicht hatte vorstellen können.

1992 kann die Waldorfschule in Ostholstein eröffnet werden

Nach der inneren Einkehr der Weihnachtstage wie neu impulsiert, zeigt sich ab Januar 1992, dass die Dinge nun rasch vorangehen. Zwei Gründungslehrerinnen finden sich. Das von der Landesarbeitsgemeinschaft der Waldorfschulen geforderte „männliche Element“ gesellt sich als Dritter im Bunde in Gestalt eines männlichen Gründungslehrers hinzu. Dann wird im Frühjahr 1992 von der Lübecker Mutterschule, der Landesarbeitsgemeinschaft und schließlich dem Bund der Waldorfschulen die Gründung genehmigt, zunächst als ausgelagerte Klassen der Waldorfschule Lübeck.
Zeitgleich finden zahlreiche Gespräche in den Gemeinden des Landkreises statt, um den Schul-Standort zu konkretisieren. Schließlich ergibt sich, dass die Näherei Bahlrühs aufgrund der Schließung ihrer Werkstätten am Mühlenholz in Lensahn Räume vergeben kann. Die Gemeindevertreter sind der Schule wohlwollend gesinnt. So wird der Schulstandort für die Waldorfschule in Ostholstein endgültig Lensahn, das auch im geographischen Zentrum des Landkreises und somit ausgesprochen verkehrsgünstig liegt. (Siehe dazu auch den Beitrag von B. Baumanns.)

In einem arbeitsintensiven Sommer, der nochmals alle Kräfte fordert, werden die Räume komplett renoviert, und im September 1992 können eine erste und eine zweite Klasse mit einem feierlichen Festakt eingeschult werden. Neun wechselvolle, arbeitsreiche und intensive Jahre finden ihren Abschluss, als die Schule ihre Tore endlich öffnen kann.

Ausblick

Mit Abschluss der Zeit bis zur Schuleröffnung ergeben sich unmittelbar die Aufgaben für die nächste Etappe. Eine stetig wachsende Schule möchte gestaltet und gegriffen werden. Der „Engel der ersten Stunde“ (Jean Paul) wird vom Pioniergeist flankiert, der noch lange vonnöten ist, um den nun anstehenden Aufgaben begegnen zu können und so zum guten Geist zu werden, der in die Schule einziehen kann. Eine Schule als ein sich stets wandelnder Organismus braucht Menschen, die sich diesem Geist verpflichtet fühlen und ihn pflegen, damals wie heute, damit die Schule gedeihen kann. Allen, die an dieser Aufgabe gewirkt haben und noch wirken, sei große Anerkennung und Wertschätzung ausgesprochen.

Grundlage für diesen Artikel waren im Frühjahr 2017 geführte Gespräche mit Gerlinde Ariberti, Klara Bahlrühs, Sönke Bai, Steffi und Benno Baumanns, Joachim Botha, Maria Diekämper-Muckelmann, Agatha Hammer, Ulrike Kohlmorgen, Marianne von Salis-Soglio, Gesa Schweppenhäuser, Beatrix Spiegel und Erika Winkelmann. In diesen Gesprächen gab es aufschlussreiche, tiefgründige Einblicke in die bewegte Zeit vor der Eröffnung der Schule. Den genannten Gesprächspartnern und hiermit auch stellvertretend den engagierten Menschen, die mit Idealismus, Enthusiasmus und Tatkraft dazu beigetragen haben, dass die Waldorfschule in Ostholstein Wirklichkeit wurde, sei an dieser Stelle sehr herzlich gedankt!