Waldorf 100 – Ansprache

Ansprache zur öffentlichen Schulfeier am 28.9.2019

von Jessica Gube

Im vergangenen Jahr haben deutschlandweit und weltweit unzählige Veranstaltungen stattgefunden, um 100 Jahre erfolgreiche Waldorfpädagogik seit der Gründung der ersten Waldorfschule in Stuttgart am 19. September 1919 zu feiern.

Unsere Schule hat in verschiedensten Aktivitäten daran teilgenommen und mitgewirkt.Nun geht das Jubiläumsjahr zu Ende und man kann sich die Frage stellen: Und was nun? Was will das zweite Jahrhundert Waldorfpädagogik in den Fokus nehmen, welche Aufgaben stehen an?

Am 19. September 2019 hat in Berlin im Tempodrom punktgenau auf den Jubiläumstag ein ganztägiges Fest stattgefunden, das in spektakulärer Weise Waldorfschüler aus verschiedensten Ländern in zahlreichen künstlerischen Präsentationen in Szene gesetzt hat. Ein Flötenorchester aus China, traditionelles Trommeln aus Japan, Melodien von einem australischen Schülerorchester, Tänzer aus Namibia, altgriechische Darbietungen, holländische Holzschuhe, spanische Orchestermusiker, Zuschauer aus Ghana, Slowenien, Südafrika u.v.m. – eine Wanderung durch die Welt im Spiegel der auftretenden Waldorfschüler. Dazu gab es eine Vielzahl von Impulsreferaten zu Erkenntnissen und Fragen der Waldorfpädagogik und was sie im zweiten Jahrhundert für Aufgaben vor sich sieht.Nana Göbel, Koordinatorin der „Freunde der Erziehungskunst“ und Leitfigur für die internationale Waldorfbewegung, formulierte, angelehnt an eine Äußerung Rudof Steiners an die ersten Waldorflehrer in Stuttgart vor 100 Jahren: „Wir müssen zusammenhalten und wir müssen Zusammenhänge schaffen.“ – Entgegen dem Spruch aus dem Volksmund: „Ob du dies oder jenes tust oder in China fällt eine Schaufel um“, ist es nämlich meist nicht egal,was man tut, auch nicht, was man sagt, und auch nicht, was man denkt.

Die Dinge hängen zusammen auf der Welt. Und ich hänge mit ihnen zusammen. Dies betrifft sowohl die zeitliche Dimension im historischen Strom, der aus der Vergangenheit die Gegenwart gestaltet und Zukunft entwickelt. Aber es betrifft auch die räumliche Dimension. Wenn ich handle, bewege ich etwas. Vielleicht zunächst nur die Luft oder das Wasser, wo der von mir hineingeworfene Stein in konzentrischen Kreisen seine Bewegung fortpflanzt. Oder die Pflanze, die ich hege und pflege. Oder das Tier, das ich füttere und versorge, oder auch Herz und Geist des anderen Menschen, für den ich mich verantwortlich fühle, um den ich mich kümmere, den ich liebe. Da vermehrt sich das Gute, das ich durch mein Handeln in die Welt setze.Aber mein Handeln in der Welt kann auch negative Folgen haben: Der Müll, den ich verursache, das Wasser, was ich vielleicht sorglos verbrauche, das Übermaß an Konsum, den ich tätige oder sogar der Unsinn, den ich rede…Jeder Tropfen Wasser auf dieser Welt hängt über den unterirdischen Strom des Grundwassers mit allen Flüssen und Meeren der Welt zusammen, die wiederum als Wolken aus dem Wasser in der aufsteigenden Luftfeuchtigkeit gebildet werden.Jeder Mensch dieser Erde hängt mit jedem anderen allein schon biologisch-genetisch zusammen, ebenso wie mit allen tierischen Geschöpfen, weil wir auseinander hervorgegangen sind.

Vor 100 Jahren wurde mit der neu entstehenden Reformpädagogik, in deren Strom auch die Waldorfpädagogik steht, erstmalig ernst genommen, dass ein Kind kein kleiner Erwachsenerist, sondern eigene Bedürfnisse hat. Die Entdeckung der Kindheit ist letztlich noch nicht alt!In dieser umwälzenden Zeit Anfang des 20. Jahrhunderts entstand auch eine Jugendbewegung, die Wandervogelbewegung, in der nach der Industrialisierung anstatt der qualmenden Schornsteine das freie Hinausströmen in die Natur gesucht wurde. Sowohl die Reformpädagogik wie auch die Jugendbewegung haben wie der ins Wasser geworfene Stein vielerlei Folgeerscheinungen gehabt, die das 20. Jhdt entscheidend mit geprägt haben. 100 Jahre später gilt es, nach der Entdeckung der Kindheit diese zu bewahren vor den Kränkungen der heutigen Zeit, vor neuer Entfremdung – Entfremdung von der Natur, in der ein Kind nicht mehr weiß, woher das Essen auf seinem Tisch kommt, oder auch Entfremdung von der sinnlich erfahrbaren Welt, in der der Bildschirm versucht, das wirkliche Leben zu ersetzen. Ein Kind hat das Recht darauf, seinen Leib und sein Gehirn analog auszubilden, in der reellen Welt, denn nur dort lernt es, sich in der Welt selbst zu erfahren, zu erproben und an der Welt Fähigkeit zu entwickeln. Auch soziale Fähigkeiten erlernen wir nur im Umgang mit dem anderen Menschen, in der Familie, in der Schulklasse,in der Begegnung, und nicht allein am Bildschirm, wo andere mich willkürlich mit Daumen hoch oder herunter „liken“ können und ein schönes Foto mehr zählt als die nicht so perfekteWirklichkeit. In der Technisierung liegt die große Gefahr der Entfremdung von der Welt. Aber sie hat eben auch das Verbindende: Wir können heute alle auf dem gesamten Globus in Echtzeit voneinander wissen und teilnehmen, wenn sich beispielsweise eine Greta Thunberg in einer neuen Jugendbewegung vernetzt und sich auf den Weg macht, die Welt zu verändern.Liebe zur Welt wecken, um mit Vertrauen seinen eigenen Platz darin zu finden, ein sinnerfülltes Leben führen zu können und Verantwortung für die Welt im eigenen Handeln zu übernehmen, sind wesentliche Aufgaben, die die Waldorfpädagogik und auch unsere Schule sich täglich stellen.

Es gilt, die Welt lieben zu lernen, um das Gute in ihr zu bewirken.Das Leben ist nicht perfekt, anders, als es ein Foto vorgaukelt. Es sind immer nur Momente,in denen sich alles so verdichtet, dass wir das Gefühl haben: Jetzt stimmt einfach alles. Doch dies ist kein Dauerzustand, es sind Momente. Und danach geht das Leben auf einer nicht ganz so dichten Ebene weiter. Aber diese Momente tragen uns, weil sie uns etwas zeigen, nach dem wir streben wollen, wie ein Stück Himmel, das man erfahren hat.

In den vielfältigen Beiträgen der Schüler auf der Schulfeier, in den konzentrierten Gesichtern und dem Bemühen, seine Sache gut zu machen, kann man ablesen, wie ernst es den Kindern ist, wie sehr sie über den manchmal mühevollen Alltag über sich selbst hinauswachsen und die Welt ergreifen wollen.

Für das Hinführen zu diesen und weiteren reichhaltigen, nachhaltigen und erfüllenden Erfahrungen steht Waldorfpädagogik jeden Tag, in den vergangenen hundert Jahren ebenso wie in den kommenden, in Lensahn genauso wie in den anderen Waldorfschulen auf allen Kontinenten.

Die Dinge hängen zusammen auf der Welt, jeder einzelne von uns steht in diesem Zusammenhang und kann daran mitwirken, dass dies fruchtbar wird.